Interview mit Sabrina von Nessen, Finanzvorstand der afb, über Frauen in Führungspositionen der Technologiebranche, Vorbilder für Frauen, Vorurteile über Männer und die (Un)-Vereinbarkeit von Karriere und Familie
Nach diversen Führungspositionen in der Finanzbranche ist Frau von Nessen seit 2011 für afb Application Services AG tätig. Seit 1. Januar 2018 leitet sie als Vorstandsmitglied das Ressort Finance & Organisation. Sie ist gefragte Rednerin und ein leidenschaftlicher Leader mit 15 Jahren Führungserfahrung.
Frau von Nessen, Großkonzern oder Mittelstand – welchen Arbeitgeber bevorzugen Sie?
Ich konnte auf beiden Seiten positive Erfahrungen sammeln. In den unterschiedlichen Rollen meiner bisherigen Karriere hat mich insbesondere eine unternehmerische Sichtweise geprägt und angetrieben. Unternehmen als Organismen zu verstehen, in denen Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Mitarbeiter und Führung wie Zahnräder ineinandergreifen, um für den Kunden einen Mehrwert zu schaffen. Diese Vorstellung begeistert mich unabhängig von Unternehmensgröße und Rolle. In einem mittelständischen Unternehmen genieße ich das Privileg, noch näher am Puls des Marktes zu arbeiten. Das ist spannend, abwechslungsreich und lehrreich zugleich.
Bei einem Mittelständler geht es also persönlicher zu. Ist das nicht ein veraltetes Klischee? Wir dachten, die Welt hätte sich fundamental verändert.
Natürlich hat sich die Welt verändert. Die Digitalisierung setzt Naturgesetze außer Kraft und verändert Vorzeichen. Großunternehmen agieren wie StartUps, StartUps wie Großunternehmen. Dabei habe ich persönlich allerdings die Erfahrung gemacht, dass kleinere Unternehmen nach wie vor flexibler denken und handeln. Die definierten Rollen sind bei einem Mittelständler zudem bei Weitem nicht so zementiert. Jeder Mitarbeiter kann sich über Rollengrenzen hinweg persönlich einbringen und das Unternehmen voranbringen. Das versetzt auch mich in die glückliche Lage, das Unternehmen über die Ressortverantwortlichkeit hinaus zu gestalten.
Beeinflusst der hohe Grad an persönlichen Beziehungen in Ihrem Unternehmen die Art und Weise, wie Sie das Thema Führung verstehen?
Ja, auf jeden Fall. Ich sehe ganz klar die Vorteile, persönliche Beziehungen aufbauen zu können. Hier ist es mir möglich, das amerikanische Verständnis der Unternehmensführung als CFO täglich zu leben. Die Rolle ist zwar klar, aber sie ist nicht abschließend und abgrenzend, sondern eher als Ausgangsposition zu verstehen, als Perspektive, aus der die (Mit-) Gestaltung der gesamten Unternehmung stattfindet.
Das gilt genauso in Richtung Mitarbeiter. Ich habe die Gelegenheit, mit jedem einzelnen zu sprechen und auch mal zu „erfühlen“, wo der Schuh drückt. Auch wenn man nicht alles heilen kann. Anders als in Konzernen kenne ich hier Hintergründe, Stärken und Leidenschaften einzelner Kollegen.
Überhaupt gefällt mir die Idee des New Works sehr gut. In der Praxis stellt man aber schnell fest, dass dies zugleich einen hohen Anspruch bedeutet. Das Maß an erforderlicher Eigenverantwortlichkeit ist beachtlich. Dies betrifft einerseits die Verantwortung des Mitarbeiters. Und gleichzeitig stellt diese Haltung und Arbeitsweise auch hohe Ansprüche an die Führung. Denn ganz ohne Führung geht es auch in diesem Umfeld nicht. Die transformationale Führung wird den neuen Anforderungen dieser neuen Arbeitswelt wohl am ehesten gerecht. Es geht darum, persönliche Führung auszuüben und in allen Aspekten Vorbild zu sein. Das kann für beide Seiten ziemlich anstrengend sein.
Kurze Zwischenfrage an dieser Stelle: Gilt das nur für die Aufgabenteilung im Vorstand oder ist die Möglichkeit, sich über seine Rolle hinaus zu engagieren, auch für alle Mitarbeiter gegeben?
Also hier hören Sie von mir ein ganz klares „Ja“. Wir sprechen hier über eine seit Jahrzehnten gewachsene Tugend und Mitarbeiterkultur der afb Application Services AG: Das gilt definitiv für alle Positionen. Jeder darf / ist aufgerufen, sich über seine zugeschriebene Rolle hinaus zu engagieren. Hier sind Querdenker und Quereinsteiger überall anzutreffen.
Seit mehr als 20 Jahren sind Sie die erste Frau im afb Vorstand. Etwas Besonderes?
Ich bin in Männerdomänen groß geworden und entsprechend domestiziert. Insofern ist das für mich nichts Besonderes, eher eine Selbstverständlichkeit: Nichts, auf das ich besonders stolz wäre oder was man betonen müsste. Ich war der Meinung, dass es nur auf die Leistung ankommt. Ich dachte immer, Frauen, die tolle Leistungen bringen, bräuchten keine gesellschaftlich motivierte Hilfestellung, um ihren Weg zu machen.
Sie sprechen in der Vergangenheitsform! Haben Sie Ihre Meinung geändert? Schließlich sind Sie gefragte Rednerin bei Veranstaltungen von Initiativen zum Thema Frauen und Karriere…
Gut beobachtet! Ja, ich habe meine Meinung tatsächlich geändert. Anfangs war ich wirklich kein Verfechter der Initiativen, die in diese Richtung laufen. Ich fand das teilweise übertrieben und über das Ziel hinaus.
Aber dann fängt man an nachzudenken. Es ist nun mal so, dass die Verteilung der Geschlechter auf unserem Erdball in etwa gleich ist. Schaut man aber in die Statistiken der Berufswelt, so verschieben sich die Quoten dramatisch: Es sind ca. 30:70 im Aufsichtsrat und 10:90 bei Vorständen. Als zahlenaffiner Mensch fragt man sich schon, warum das so ist. Der entscheidende Impuls, mich tatsächlich auch zu Wort zu melden und zu engagieren, kam durch meine exponierte Rolle als Führungskraft an der Unternehmensspitze. An der Spitze eines Unternehmens will ich gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und vorleben.
Das klingt fast philosophisch.
Vielleicht. In jedem Fall engagiere ich mich für Frauen, die in der Berufswelt nachteiligen Mechanismen ausgeliefert sind. Hier muss man dann auch schon einmal Hausaufgaben erledigen. So war beispielsweise mein Social Media Profil jahrelang veraltet. Weil sich aber gerade dieses Thema stark über die sozialen Medien verbreitet, habe ich das Reformprojekt in Angriff genommen
Welche Insights haben Sie im Rahmen Ihres Engagements in Frauennetzwerken gewonnen?
Zugespitzt: Die Frauen suchen Vorbilder und haben selbst Vorurteile. Ich fange mal mit den Vorbildern an. Die sind immer nützlich, wenn es etwas zu bewegen gilt, wenn mutige Schritte unternommen werden müssen. Sie helfen also auch, wenn Frauen an ihrer beruflichen Situation etwas ändern wollen, aber sich nicht trauen. Als Vorbilder verstehe ich nicht unbedingt die Frauen, die es „geschafft haben“ und im Rampenlicht stehen. Es ist gut, dass es diese leuchtenden Beispiele gibt, um generell auf die Gender-Thematik aufmerksam zu machen. Aber für den Alltag, für den nächsten Karriereschritt, orientieren sich Frauen lieber an erreichbaren Vorbildern, an den Heldinnen des Alltags. Und, ja: Gelernt habe ich auch, dass Vorurteile Frauen davon abhalten, typische „Männer“-Berufe zu ergreifen, allen voran in der IT.
Vorbilder, ok. Aber Vorurteile? Befördert nicht genau das die Benachteiligung von Frauen?
Ja, so ist es, nobody is perfect. Die Vorurteile haben für Frauen negative Konsequenzen. Ein typisches Vorurteil, das Frauen über Männer in der Berufswelt haben, ist folgendes: Männer präsentieren ein Arbeitsergebnis und fordern schnell Applaus, auch wenn das Ergebnis noch suboptimal ist. Frauen dagegen würden das nur machen, wenn sie sich hundertprozentig sicher sind, dass das Ergebnis optimal ist. Sie befürchten, dass sie diesem Mechanismus in männerdominierten Berufen besonders intensiv ausgesetzt sind. Hierauf haben viele Frauen keine Lust. Sie scheuen den vermeintlichen Wettbewerb gegen ihre männlichen Kollegen. Und so kommt es, dass Frauen den einen oder anderen Beruf liegen lassen, obwohl er sie eigentlich interessiert hätte. Das ist schade.
Frauen stehen sich also bei der Verfolgung Ihrer Ziele selbst im Weg?
Wenn Sie so wollen. Aber ist das denn bei Männern anders? Wir dürfen nicht vergessen: Die Prägung beginnt im Kindesalter, weit vor dem Berufsleben, und die lässt Frauen ihre Chancen nicht so verfolgen, wie sie es eigentlich könnten. Wenn z. B. schon in Kinderjahren den Mädchen eingeredet wird, dass gewisse Berufe nur für Jungs geeignet sind, dann ist das nicht zu unterschätzen.
Glauben Sie nicht, dass manche Themen schlichtweg Männer mehr interessieren als die Frauen und umgekehrt?
Möglicherweise ist das Interesse für ein Thema zu einem gewissen Grad geschlechterspezifisch. Für Personalarbeit interessieren sich meiner Beobachtung nach mehrheitlich Frauen. Dagegen ziehen Themen wie IT eher die Männer an.
Die Ursachensuche, warum Frauen manche Berufe nicht ausüben, kann man auch auf die Spitze treiben – Fakt ist doch: Die Branche hat es noch nicht geschafft, IT-Berufe für Frauen interessant zu machen. Das ist es, was zählt. Hier gibt es für die Unternehmen noch viel Arbeit.
Das würde umgekehrt auch heißen, sich für mehr Männer in den Personalabteilungen zu engagieren. Gibt es Initiativen?
Ist mir nicht bekannt. An diesem Punkt offenbart sich auch der Grund, warum es so viele Initiativen für das Thema Frauen und Karriere gibt. Was nach gesellschaftlichem Umdenken aussieht, ist zunächst schlicht der Ressourcen-Knappheit geschuldet. IT-Kräfte sind rar, also aktivieren Unternehmen alle Potenziale. Umgekehrt herrscht auf dem Markt für Personaler keine Knappheit. Männer sind zwar in den Personalabteilungen eine Seltenheit, aber es gibt zu wenig Anlass, dies zu ändern. Der „Leidensdruck“ ist einfach noch nicht hoch genug.
War for Talents – der entscheidende Grund, warum sich Diversität lohnt?
Genau, der entscheidende Grund, wenn auch ein ganz banaler. Aber ich sehe noch einen anderen, eher strategischen Grund: Diversität fördert die Performance. Das ist erwiesen. Selbst wenn auch bei uns nicht alle Teams aus Frauen und Männern zu gleichen Anteilen bestehen, sind wir ein von Diversität geprägtes Unternehmen. Bei uns arbeiten Menschen aus allen Erdteilen und Altersgruppen. Da gibt es keinerlei Berührungsängste oder Befindlichkeiten. Die Kollegen untereinander sind sehr hilfsbereit. Darauf sind wir stolz. Im alltäglichen Miteinander hat da die Persönlichkeit viel Gewicht, aber bei der Entscheidungsfindung wenig Platz. Da zählt dann allein das Ergebni
Was zeichnet den weiblichen Führungsstil aus? Wo sehen Sie Schwächen, wo Stärken?
„Führungsstil“ – schon den Begriff finde ich schwierig. Stil steht doch für Wiedererkennung und Gleichförmigkeit. Führung sollte sich aber immer dem Individuum anpassen. Auch würde ich nie sagen, dass Frauen pauschal die besseren Führungskräfte sind. Geht es aber um Talente, fällt auf, dass es Frauen tendenziell einfacher fällt, Zugang zu der emotionalen Ebene von Menschen zu finden und Emotionen zu kontrollieren. Frauen verfügen also über wichtige Schlüsselkompetenzen, die Führungskräfte in Zukunft brauchen. Herausforderungen gibt es immer dann, wenn eine Frau einen Mann „führt“, obwohl dieser erfahrener ist. Da verhalten sich Männer untereinander einfach anders.
Abschließend zum Klassiker, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sehen Sie hier Fortschritte?
Ehrlich gesagt, wenig. Und das ist wirklich sehr enttäuschend. Familie und Beruf sind für Frauen noch nicht auf einfache Weise vereinbar. Einerseits müssen wir gesellschaftlich und politisch die Rahmenbedingungen weiterentwickeln, z. B. im Bezug auf Kinderbetreuung. Vor allem aber behindern immer noch verkrustete Ansichten und eingefahrene Denkmuster Frauen an der konsequenten Verfolgung einer selbstbestimmten Karriere. Diesen Denkmustern unterliegen übrigens auch die Frauen selbst.
Unabhängig vom Geschlecht sollten Menschen eigene Lebenskonzepte entwickeln und verwirklichen. Wenn Menschen einen Zugang zu ihrer Leidenschaft finden und diesen Weg konsequent verfolgen, kann Großartiges entstehen. Solange aber Glaubenssätze und Vorurteile den Weg verbauen, möchte ich mich engagieren.
Frau von Nessen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.