25.07.2022

Finance Business Next

Unternehmensbewertungen durch ESG Ratingagenturen

25.07.2022  | Thomas Weber

 

HINTERGRUND

Seit vielen Jahrzehnten ist die Bewertung von Unternehmen durch Ratingagenturen für Anlage- oder Kreditentscheidungen von zentraler Bedeutung. Mittels einer relativ leicht verständlichen Rating-Einstufung wird eine verdichtete Aussage über den finanziellen Zustand (z. B. aus der Analyse des Jahresabschlusses, der kurzfristigen Erfolgsrechnung und der Planungsrechnungen) eines Unternehmens getroffen (Bonität), die um qualitative Informationen (z. B. Marktposition, Management) ergänzt wird. Im Kern ist diese Einstufung eine Abschätzung der Ausfallwahrscheinlichkeit des beurteilten Unternehmens, also der Insolvenzgefahr. Für Banken und Investoren folgen aus dieser Einstufung wesentliche Entscheidungen über die weitere Behandlung eines Kredits/einer Anleihe, z. B. im Hinblick auf das Pricing, die Kredit-/Anleihebedingungen oder die bilanzielle Behandlung der Forderung.

Aufgrund dieser Bedeutung sind Rating-Dienstleistungen für das Finanzsystem reguliert. Für den Bereich der Nachhaltigkeits-Ratings ist das aktuell noch nicht der Fall. Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) hatte im Februar 2022 eine Textanalyse der Presseveröffentlichung von Ratingagenturen [1] durchgeführt, woraus ersichtlich ist, dass in den Rating-Berichten die Nachhaltigkeitsangaben zu den Unternehmen und die zugrunde gelegten ESG (Environment, Social, Governance) Faktoren sehr häufig variieren, sogar in Branchen, die stark von ESG Faktoren beeinflusst sind. In der Folge hat die ESMA die relevanten Marktteilnehmer bis Anfang Juni 2022 um eine Einschätzung des ESG Rating Markts in Europa gebeten (Targeted consultation on the functioning of the ESG Ratings Market in the European Union and on the consideration of ESG factors in credit ratings).

 

DERZEITIGE MARKTSITUATION

Die meisten der derzeitigen Rating-Produkte ermöglichen keine absoluten Aussagen zum ESG Verhalten eines Unternehmens. Die fehlende Standardisierung führt dazu, dass beispielsweise im TCFD (Task Force on Climate-related Financial Disclosures) Report 2020 der UniCredit die Ratingergebnisse von 12 Rating-Agenturen wiedergegeben sind, die seitens der Bank mit einer Einordnung des Ergebnisses versehen wurden. Aufgrund der fehlenden Transparenz der Ratingagenturen basieren die Kommentierungen der betroffenen Unternehmen fallweise aber auch auf Mutmaßungen im Hinblick auf die verwendeten Kriterien. Die Ähnlichkeit zu anerkannten Kredit-Rating-Prozessen kann den Anschein einer vergleichbaren Qualität und Verlässlichkeit erwecken, die jedoch nicht gegeben ist.

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sieht in ihrem Merkblatt (Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken) die Nachhaltigkeitsrisiken als Faktoren der bekannten Risikoarten. Eine separate Risikoart „Nachhaltigkeitsrisiken“ wird abgelehnt; „eine Abgrenzung wäre kaum möglich“. Nachhaltigkeitsrisiken können auf alle bekannten Risikoarten erheblich einwirken und als Faktor zur Wesentlichkeit dieser Risikoarten beitragen. Als Beispiel wird das Kreditrisiko genannt, wenn das Geschäftsmodell eines Unternehmens maßgeblich aufgrund politischer Entscheidungen zu ESG Themen beeinträchtigt sein kann.

Damit ergibt sich die aktuelle Situation, dass es zwar viele Anbieter von ESG Ratings gibt und sich die Urteile in ESG Zertifikaten niederschlagen, deren Aussagegehalt aber nicht objektiv nachgeprüft und verstanden werden kann und damit letztendlich nur der Ausdruck einer subjektiven Bewertung auf Basis weitgehend individuell festgelegter Kriterien darstellt. Das Ziel müsste eine integrierte Risikoklassifizierung sein, also die Erweiterung des klassischen Bonitätsratings um bonitätsrelevante Nachhaltigkeitsfaktoren. Dazu wäre allerdings ein vollständiger Umbau der traditionellen Ratings notwendig: statt einer (im Wesentlichen) Betrachtung der Vergangenheit eines Unternehmens und der Ableitung auf die (im Wesentlichen) kurzfristige zukünftige Entwicklung, müssten Strategie, Geschäftsmodell und damit der Unternehmenswert unter den sich mittel- und langfristig verändernden ESG-Faktoren beurteilt werden. Dies würde einer hochwertigen externen Berichterstattung von Finanzinformationen mit Blick auf die Nachhaltigkeitsthemen entsprechen.

 

AUSBLICK

Der Vorschlag der EU Kommission zur Überarbeitung der Nachhaltigkeitsberichterstattung (Corporate Sustainability Reporting Directive, CSRD, COM (2021) 189 final) und die dafür entwickelten Standards (European Sustainability Reporting Standards, ESRS) der EFRAG (European Financial Reporting Advisory Group) versuchen, diese Betrachtungsweise in die Unternehmensberichterstattung zu übernehmen. Dies geschieht beispielsweise durch die Verpflichtung zur Verwendung von Klimaszenarien, wie dies schon von der Taskforce on Climate-related financial disclosures (TCFD) vorgeschlagen wurde. Im Rahmen der ESRS Standards werden Unternehmen zukünftig selbst ein Urteil darüber abgeben müssen, wie sie mit den sich verändernden Rahmenbedingungen umgehen und damit ihre Resilienz stärken wollen. Dieses Urteil könnten sodann Dritte versuchen zu objektivieren.

Ob allerdings aus diesen Beurteilungen eine ähnlich transparente und nachvollziehbare Aussage über die Insolvenzwahrscheinlichkeit eines Unternehmens abgeleitet werden kann, wie dies bei den traditionellen Finanzratings der Fall ist, bleibt zumindest fraglich. Die Ratingbewertungen von ESG-Kriterien könnten sich ohnehin nur auf „longterm ratings“ auswirken. Das Institut der deutschen Wirtschaftsprüfer (IdW) gibt auch zu bedenken, dass es derzeit noch nicht viele allgemein verfügbare ESG-Daten gebe, „wodurch die Marktteilnehmer ESG-Ratings von Dritten kaum selbst beurteilen können“.

Die Grundlagen heutiger Rating-Urteile sind die über viele Jahre entwickelten, allgemein akzeptierten (nationalen oder internationalen) Buchhaltungs- und Reportingstandards. Vergleichbare Empfehlungen für die Nachhaltigkeitsthemen sind zwar in einigen Bereichen schon fortgeschritten (z.B. durch die Global Reporting Initiative, GRI), deren Anwendung erfolgt derzeit aber auf freiwilliger Basis. Man muss hoffen, dass sich die Regulatoren möglichst bald auf verbindliche Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung einigen werden, um damit die Grundlage von aussagekräftigen und vergleichbaren ESG-Ratings zu schaffen. Eine Regulierung des Ratingmarktes könnte darüber hinaus aktuelle Missstände beseitigen helfen (Stichwort: Greenwashing) und weitgehend objektive Investitionsentscheidungen in Bezug auf Nachhaltigkeitsaspekte ermöglichen.

Quellen

[1] ESMA TRV Risk Analysis (2022): Text mining ESG disclosures in rating agency press releases. www.esma.europa.eu/sites/default/files/library/esma80-195-1352_cra_esg_disclosures.pdf

Thomas Weber